Offener Brief an Serhij Zhadan

„Plötzlich ist Deutschland nicht mehr Deutschland, sondern Russland.“
(Alfred Döblin, November 1918)

Betr.:
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz | „Kreidekreis Krim – Sprengstoff für die politische Architektur Europas“ | Podiumsdiskussion mit: Dr. Uwe Krüger, Dr. Mieste Hotopp-Riecke, Jürgen Rose und Serhij Zhadan. Moderation: Sebastian Kaiser | 16.3.2014, 20 Uhr

Berlin, den 17.3.2014

Sehr geehrter Serhij Zhadan,

normaler Weise ist es als Theaterwissenschaftlerin nicht meine Art, emotionale Briefe und Stellungnahmen zu verfassen, sondern vielmehr distanzierte Analysen formaler Darstellungen von Emotionen. Nach der gestrigen Veranstaltung in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz habe ich jedoch das dringende Bedürfnis, mich bei Ihnen, als ukrainischem Schriftsteller, der sich engagiert für die Demokratisierung seines Landes einsetzt und dem in der gestrigen Veranstaltung in einem der wichtigsten deutschen Theater so eine unsolidarische, ja teils verächtliche Haltung seitens der Veranstalter entgegengebracht wurde, zu entschuldigen! Ich weiß, das ist unmöglich. Aber ich möchte Ihnen gegenüber zum Ausdruck bringen, dass ich mich angesichts der gestrigen Veranstaltung in der Volksbühne, als Theaterwissenschaftlerin, als Berlinerin, als Deutsche, schäme für die Verhöhnung der Maidanaktivisten, des ukrainischen Parlaments, der ukrainischen Demokratiebewegung, der Krimtataren. Ich schäme mich für die unreflektierte Übernahme und Weiterverbreitung der derzeitigen Kremlpropaganda und für die offenkundige Desinformation, die auf dieser Veranstaltung, besonders seitens der völlig inkompetenten Moderation betrieben wurde. So behauptete der Moderator, der Dramaturg Sebastian Kaiser, dass die Krim erst seit 24 Jahren zur Ukraine gehören würde, womit er offenbar darauf abzielte, die international anerkannten Grenzen eines souveränen Staatswesens in Europa zu revidieren. Dass die Krim 1954 unter Chruschtschow zur ukrainischen Sowjetrepublik kam, dass die Ukraine als Staatswesen eine längere Geschichte hat als die postsowjetische, davon kein Wort. Vielmehr zielte die hintersinnige Begründung des Moderators darauf ab, die Krim wäre ja, wie man dieser Tage allzu häufig in deutschen Medien liest, durch und durch russisch. Ich will mir gar nicht imaginieren, wie er angesichts der Multiethnizität und der alten, Jahrhunderte langen tatarischen Geschichte der Krim zu diesem Befund gekommen ist, besonders angesichts der Tatsache, dass er, laut Pressetext der Veranstaltung, zweimal Leiter eines internationalen Kunstfestivals auf der Krim gewesen ist. Schrecklich ist, dass hier (wieder) Deutsche, unter dem Signum des „Russlandexpertentums“ – so auch der Mitdiskutant und Journalist Uwe Krüger mit Blick auf „Russlands Interessen“ als Begründung für seine relativistischen Aussagen anbrachte, er habe einmal „1 ½ Jahre in Russland gelebt“… –, über andere Staaten und Völker hinweg meinen, Geopolitik machen zu dürfen. Heute nacht las ich, dass man im russischen Staatsfernsehen (Rossija 1) verkündete: „Russland kann die USA in radioaktive Asche verwandeln“. Nachdem Sie als Letzter in der Podiumsdiskussion zu Wort kamen, haben sie auch auf die durchaus vorhandene, weil vor allem seit nunmehr Monaten durch diffamierende, kriegstreiberische Propaganda vorbereitete militärische Gefahr seitens der Politik der Russischen Föderation, insbesondere für die Ukraine, verwiesen. Darauf durfte der – zum Glück und zurecht in Deutschland völlig unbekannte – Jürgen Rose, der von der Volksbühne als Oberstleutnant a.D. der Bundeswehr vorgestellt wurde, eine minutenlange Hasstirade gegen die US-amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik loslassen. Diese anscheinend zum Beruf geronnene private Obsession sei ihm unbenommen. Man soll alten Männern ihre Gewohnheiten lassen. Aber warum lässt man diesen durch nichts hierzu qualifizierten Herrn zur Okkupation/Abspaltung der Krim als „Sprengstoff für die politische Architektur Europas“ sprechen, wofür er sich offensichtlich überhaupt nicht interessiert? Warum überhaupt müssen diese Männer, Krüger, Rose, Kaiser, in einer öffentlichen Diskussion zur politischen Krise in der Ukraine ihren Antiamerikanismus austoben? Und warum lädt man Sie, lieber Serhij Zhadan, den man kaum zu Wort kommen lässt, zu diesem durchgeknallten deutschen Plauderstündchen ein, in dem sich pseudo-linke Russlandversteher und USA-Hasser eine altstalinistische Geopolitik im scheinbar „medienkritischen“ Gewand zueigen machen, dass es sich gewaschen hat. Überhaupt: die „Medienkritik“. Kritisiert wurde die „Einseitigkeit“ der deutschen Medien, was erst einmal gut klingt und immer gut ankommt. Das Problem war nur, dass die selbsternannten Medienkritiker Krüger und Kaiser die „Einseitigkeit“ der deutschen Medien – sie meinten damit vor allem die Bildzeitung, was für sich spricht –, gar nicht richtig analysieren konnten. Ihre „Kritik“ zielte offenbar darauf ab, dass nicht genügend über die rechten und rechtsradikalen Kräfte auf dem Maidan berichtet worden sei. Was nachweislich falsch ist: Gerade in den letzten Wochen ist dieses Thema rauf- und runterberichtet worden, zum Teil mit der Tendenz zur völligen Diffamierung der ukrainischen Demokratiebewegung und Delegitimierung des ukrainischen Parlaments (vgl. z.B. die Sendung „Anne Will“ mit dem Titel „Ist die Krim erst der Anfang?“ und die Kritik an der Sendung, über die u.a. FR-online berichtete). Es gibt, insbesondere durch Verlinkung im Internet und auf Facebook, ungezählte Möglichkeiten, sich sehr breit gefächert in seriösen Medien, auf deutsch und englisch über das Thema Rechtsextremismus in der Ukraine zu informieren, sei es in der taz, der FAZ, der ZEIT, in BBC, der Süddeutschen, der Deutschen Welle, sei es über FB-Seiten wie „Berliner Osteuropa-Experten“, bei Reporter ohne Grenzen, in den Tagesthemen, im DLF (insbesondere durch die sehr kritische und ausgewogene Berichterstattung der Korrespondentin Sabine Adler) usw. Ganz sicher keine seriösen Informationen zum Thema bekommt man von seiten der russischen Staatsmedien, die in den letzten Wochen und Monaten mehr und mehr gleichgeschaltet wurden. So wurde vor einiger Zeit einem der letzten regierungskritischen Sender Dozhd-TV der Saft abgedreht. Vor wenigen Tagen wurde die Chefredakteurin eines der letzten unabhängigen und seriösen Internetmedien in Russland, lenti.ru, Galina Timtschenko abgesetzt. Den – bis dahin – unabhängigen Radiosender Echo Moskwy ereilte bereits im Februar ein ähnliches Schicksal. Und am 13. März berichtete Wedomosti, dass nun auch – zumindest von Russland aus – die Internetmedien grani.ru, die Seiten der Regierungskritiker Kasparow, kasparov.ru, und Alexej Nawalny, http://navalny.livejournal.com, sowie das Infoportal ej.ru ganz offiziell von Regierungsseite blockiert seien. Begründung dieses Amoklaufs gegen die Informationsfreiheit war vor allem die polyperspektivische Verlinkung der genannten Medien hinsichtlich der politischen Situation in der Ukraine, also, so die russischen Regierungsbehörden, das „Aufrufen zu illegalen Handlungen“. Dahinter steht, dass die Propaganda – ja, man muss das wirklich so nennen! – seit Monaten vom sich in der Ukraine ausbreitenden „Faschismus“ fabuliert, die ukrainische Übergangsregierung als Junta bezeichnet, die das „Volk“, vor allem das russischsprachige, das als „eigenes“ angesehen wird, bedrohe. Angesichts der Pro-Regierungsdemonstration am 15.3. in Moskau – der zum Glück eine wesentlich größere Antikriegsdemonstration mit zw. 30- und 50.000 Teilnehmern gegenüberstand, die allerdings vom Staatsfernsehen weitgehend bagatellisiert wurde –, angesichts der militärischen Gestik, der sowjetnostalgischen Symbolik (Fahnen), der propagandistischen Parolen („Gegen Faschismus“), die nicht zuletzt auf das Schmieröl des Stalinismus, den „Großen Vaterländischen Krieg“ rekurrieren, dieser erstgenannten Moskauer Demonstration, angesichts der busweise aus Russland über die Grenze in die östlichen Städte der Ukraine, nach Donezk und Charkiw gekarrten „Pro-Russland-Demonstranten“, die sich ein ums andere Mal bereits als beinharte Nazis entpuppt haben, angesichts all dessen fragt man sich allerdings mehr und mehr: wer ist hier eigentlich der Faschist, wer ist durch wen vom Faschismus bedroht? Wessen Land wurde eigentlich okkupiert? Wogegen gehen eigentlich in Moskau zehntausende Antikriegsdemonstranten auf die Straße? Wessen Panzer rollen denn über die Krim?

Von all diesen Fakten nahm die – ja, nennen wir es vorläufig so – Diskussion in der Volksbühne keine Notiz. Der Direktor des Instituts für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan-Studien Berlin-Magdeburg, Mieste Hotopp-Riecke konnte gerade noch mit Bezug auf die Kritik der deutschen Medien richtigstellen, dass die Krimtataren nicht, wie fälschlich in einigen Medien dargestellt, das Parlament der autonomen Republik Krim gestürmt hätten. Das war dem Moderator neu. Ach, die Tataren haben nicht die Regierung der Krim gewaltsam gestürzt? Naja, man kommt ja auch durcheinander, Tschetschenen, Tataren, Krimtataren, immer diese komischen Völker; Russland, Ukraine, so viele Staaten – war doch schöner, als alles noch eins war… Ach ja, die Deportation der Krimtataren durch Stalin (1944) wurde auch erwähnt. Allerdings nicht der Zeitpunkt ihrer erlaubten Rückkehr (ab 1988), ganz zu schweigen von den dort nach mehr als 40 Jahren Exil vorgefundenen Lebensbedingungen. Wem gehört sie denn nun eigentlich, die Krim? Waren die Tataren nicht auch mal mit den Nazis verbündet…

Kurz bevor es zum Äußersten hätte kommen können, der Leugnung von Massendeportation und Völkermord durch das stalinistische Regime – die Logik der Veranstaltung hätte dies nicht ausgeschlossen –, habe ich die Veranstaltung aus Protest vorzeitig verlassen. Ich wollte diesem Reenactment des Kalten Kriegs, inszeniert unter dem Vorwand des Russlandverstehens bei völliger Missachtung der Demokratiebewegungen in Russland und in der Ukraine, einfach nicht länger beiwohnen.

Vor der Volksbühne stand man unter Fahnen, auf denen in Frakturschrift „Krim“ geschrieben steht. Unwillkürlich kommt man ins Grübeln, warum diese Schrift? Frakturschrift? Ausgerechnet an diesem Ort der Moderne, der sich auf Piscator und Brecht beruft? Offenbar will man hier irgendeine historische Epoche assoziieren. Aber welche? Man versteht es nicht. War nicht die Frakturschrift die Schrift der Kriegstreiber von 1914? Wurde nicht die Fraktur, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg, von der Antiqua abgelöst, die als Schrift der Moderne, der Internationalität, ja, des Sozialismus galt – ganz im Gegensatz zur alten Fraktur, die als „deutsche“ Schrift unter den Nationalsozialisten wieder eine besondere Aufwertung und Verbreitung fand?

Gerade mit der Aufschrift „Krim“ nehmen diese sich aufdrängenden Assoziationen einen besonders geschmacklosen Verlauf. Deprimiert geht man nach Hause, ach Volksbühne, was ist aus dir geworden, wie tief bist du gesunken.

Und was müssen Sie, lieber Serhij Zhadan, angesichts dieser unsäglichen Veranstaltung gedacht haben? Ich vermag es mir nicht auszumalen. Nur möchte ich Ihnen versichern, dass es mir unendlich leid tut. Ich kann das Bild, das Sie jetzt vermutlich, und zurecht, von Berlin, vom deutschen Theater, von den deutschen „Linken“ und Intellektuellen haben, nicht revidieren. Auf den beiden von Euromaidan Wache Berlin und der NGO Deutsch-Russischer Austausch (DRA) organisierten Demonstrationen zur Solidarität mit der Ukraine und gegen die unrechtmäßige und gewaltsame Okkupation von ukrainischem Staatsgebiet am 2.3. und am 9.3., auf denen ich war, waren beschämender Weise jeweils nur ein paar hundert Menschen. Es mangelt in Deutschland an Solidarität. Es mangelt in Deutschland an Freiheitsliebe – und entsprechend an einem Verständnis für den Kampf um Freiheit. Man ist satt, man hat seine Gewohnheiten und will weiter nicht belästigt werden. Alfred Döblins Roman November 1918, den ich anfangs zitiert habe (das Zitat ironisiert das allgemeine Unverständnis und die Unreflektiertheit gegenüber den revolutionären Ereignissen zwischen November 1918 und Februar 1919 in Berlin), trägt den Untertitel Eine deutsche Revolution – eine Ironie: Der Roman handelt vom Scheitern einer Revolution, vom Nicht-Zuendeführen, vom Mangel an Solidarität, an freiem und kritischen Denken. „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ Dieser Satz von Rosa Luxemburg wurde während der Protestbewegung 1989 in der DDR oft zitiert. Aber wurde er auch verstanden? Der Satz stammt aus dem Text „Zur russischen Revolution“, in dem Luxemburg ihr Demokratieverständnis darlegt und in dem sie Lenins Diktaturverständnis dekonstruiert. Vollständiger heißt das Zitat: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ Also keine Diktatur der Mehrheit, Eintreten für das Recht der Minderheiten (der „Andersdenkenden“). Mit Blick auf die Krim, gerade am Tag des so genannten „Referendums“, das die Annexion der ukrainischen autonomen Republik Krim durch die Russische Föderation legitimieren soll, indem es den Willen der Mehrheit durch die Mehrheit publizieren soll, erscheint Rosa Luxemburgs Nachdenken über Demokratie so aktuell wie je. Es steht, wie in dem oben stehenden Zitat zum Ausdruck kommt, in krassem Gegensatz zur aktuellen militanten Durchsetzung von geopolitischen „Interessen“ auf der Krim, zur aktuellen Wiederkehr imperialistischen Denkens in Europa, zur totalitären Herrschaft der Mehrheit überhaupt (sprachlich, kulturell, politisch). Damit steht es auch in krassem Widerspruch zu der gestrigen Veranstaltung in der Volksbühne, in der allen Ernstes von seiten des Moderators die Frage gestellt wurde, warum man denn das „Referendum“ (als „Volkswille“) nicht einfach anerkenne, mit dem stetigen Verweis auf die Unabhängigkeiterklärung des Kosovo, der jedoch, in offensichtlichem Unterschied zur aktuellen Lage in der Ukraine, massive ethnische Vertreibungen vorausgegangen waren. (Ganz davon abgesehen, wie, auf welche Art und Weise das „Referendum“ auf der Krim durchgeführt wurde, wer daran teilnahm und wer nicht, und wer als „internationale Beobachter“ eingeladen war.)

Man sollte sich in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz an Rosa Luxemburgs Reflexionen zur Demokratie erinnern.

Viel wichtiger ist aber im Moment eine echte Solidarität mit der Ukraine, mit der Entwicklung der ukrainischen Demokratiebewegung, der Rechte des Einzelnen, der Meinungsfreiheit. Wichtig ist das beständige Eintreten für die staatlichen Souveränität der Ukraine, gegen militärische Bedrohung, Okkupation und von außen vorgenommene  Destabilisierung. Wichtig ist die internationale Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Entwicklung und des Demokratisierungsprozesses, nicht nur kulturell, intellektuell, politisch, sondern auch finanziell.

Auch wenn Sie heute abend in der Volksbühne, trotz einiger Einsprüche aus dem Publikum gegen die haarsträubende Diskussionsleitung, wahrscheinlich nicht den Eindruck gewinnen konnten: Es gibt Solidarität! Es gibt ein großes Interesse an der Ukraine jenseits der Geopolitik und jenseits des Neoimperialismus. Alle meine Freunde, seien sie Franzosen, Russen, Ost- oder Westdeutsche bewundern und unterstützen die freiheitliche, demokratische und multiethnische Euromaidan-Bewegung. Alle hoffen, bald wieder in und durch die Ukraine reisen zu können. Wir wollen doch sehen, wo der Jazz erfunden wurde!

Lieber Serhij Zhadan, ich wünsche Ihnen nur das Beste und würde mich freuen, Sie in einem deutlich angenehmeren Zusammenhang noch einmal treffen zu können.

Christina Schmidt, Theaterwissenschaftlerin, Berlin

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